Maria

Ich habe Maria wiedergesehen. Sie ist älter geworden. Zusammen mit einem Sascha sass sie in der Straßenbahn. Maria liebt jetzt Sascha. Und beide sprachen russisch. Früher habe ich nie bemerkt, dass Maria russisch spricht. Erst seit sie Sascha liebt spricht sie russisch. Ich habe mir die beiden genau angesehen. Maria sieht immer noch wie ein Kind aus. Aber sie hat ihre Augenbrauen ausgezupft. Ein kleiner dunkler Strich über ihren Augen ersetzt ihre Augenbrauen. Ihre schmale langen Finger. Sascha tapst auf Marias Fingerkuppen. Dann sieht er wieder aus dem Fenster. Und Maria tapst auf Saschas Knie, als ob er noch einmal, stärker, besitzergreifender ihre Finger­kuppen, ihre Hände, Maria nehmen sollte. Aber Sascha sieht aus dem Fenster, sieht den Beton des U-Bahn-Schachts. Ich habe Maria noch nie so geliebt wie in diesem Moment. Sicherlich stammt Sascha von ukrainischen Bauern ab. Zwar fehlen ihm die dicken Mohrrübenfinger und diese Schweinsäuglein der Landbevölkerung, dafür aber sind seine Hände unruhig, zittrig, wie die eines alten Mannes. Und Sascha ist nicht älter als ich. Sein Gesicht ist noch nicht faltig, aber tiefe Augenfurchen und erste Stirnfalten zeichnen ihn.

Erst ein Jahr später sah ich Maria wieder in der Straßenbahn. Maria stand kerzengerade in der Straßenbahn, vor ihr ein langer Stock mit rotem Griff, der ihr bis zum Kinn reichte. Ich glaube, es war ein Blindenstock. Woran war Maria erblindet? An ihrer Liebe, vielleicht zu Sascha? Wahrscheinlicher war aber eine Gewalttat des bäurischen Saschas an Maria. Alkoholisiert, wie alle Bauern, nach einigen Jahren in der Großstadt, stach er ihre Augen aus, oder er blendete sie. Sicherlich hat Sascha Maria geblendet, wie seine Vorfahren, machte er ein Eisen glühend heiss und hielt es ihr vor die Augen. Maria ertrug das alles. Maria mir.

Und irgendwann einmal wird Maria wieder in der Straßenbahn sein, diesmal schlafend. Ich werde sie nicht stören. Sie wird träumen, vielleicht auch von mir, während die Straßenbahn ihren Schlaf schaukelnd überwacht. Ich werde mir dann Marias Lippen aus nächster Nähe wieder ansehen können, diese Trapeze. Im Schlaf wird sie lächeln und ich mit ihr.


Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023