Heimat

Heimat finden —
Einen gelben Postwagen sieht meine Mutter vorüber fahren, als sie die ersten Geburtswehen verspürt. Noch immer weiß sie nicht, ob es gut ist, überhaupt dieses Kind zu wollen — das fünfte Kind, drei Totgeburten und ein Mädchen. Sie presst die Augen zusammen, bis sie die Kröte sieht — unhörbar.

Später wird mir meine Mutter davon erzählen und wie sie einen Tag davor noch ein Federbett gekauft haben für ihr neues Heim.
Stumm ist der Vater, glättet nur das Bett und setzt sich daneben auf den Stuhl.
Und Jahre später wird meine Mutter erzählen, wie ihr damals niemand glauben wollte, dass sie die anderen Kinder auch wollte, obwohl doch alles dagegen sprach, als man sie stumm auf der Treppe beim Putzen in einer Blutlache mit den ersten zwei Kinder fand.
Spätert flüstert der Vater einen Brief «Großvater, es ist leider ein Junge.».

Mutter Natur hilft meiner Mutter und presst das Knäuel aus Blut und Hoffnung aus ihr heraus.
«Jetzt wird meine Mutter mit mir zufrieden sein.», seufzt meine Mutter.
Eine Kröte hüpft in ihren Augen, auf ihrer Haut klettern die Käfer. Nachdem die Nabelschnur durchtrennt ist, erzählt mir meine Mutter über ihre Kröte und ihre Käfer und zwinkert mir dabei verschwörerisch zu.
Meine Mutter legt mich an ihre Brust. Sie wartet auf ein Zeichen von mir. Ich mag die Kröte nicht, ich mag keine Käfer. Ich rieche die gallige Säure und weigere mich diese schale Milch aus den Vorhöfen meiner Mutter zu trinken.
Eine Krankenschwester wird gerufen, «Bürschchen, das haben wir gleich! Du wirst schon trinken!», sagt die Nonne und presst mich wie ein ungehorsames Kätzchen auf die Brustwarze meiner Mutter. Ich kotze.


Heimat suchen —
Manchmal darf ich auf dem neuen Federbett der Eltern liegen. Mein Vater sieht mir gewissenhaft vom Stuhl aus zu, wie ich die Welt entdeckte. Der Rauhfaser-Himmel, die Rosentapeten, das Holzbett, die weißen Gardinen.
»Es ist geschafft«, flüstert meine Vater, »Ich werde mit ihm erst einmal die Wohnung entdecken. Und an den Bodensee zu meiner Mutter fahren wir nächstes Jahr. Der Kleine muss lernen, sich zu gedulden.«Am Wochenende darauf beglückwünschen die Nachbarn meine Eltern. Wurstsalat und ein Glas Sekt gibt es für jeden.
»Viel Arbeit!«, denkt meine Mutter, »Aber jetzt kann ich auch stolz auf mich sein, sagt meine Mutter.« und verabschiedet den letzten Gast: »Ich hoff’, es war recht!«.

An den Wochentagen kommt ab und an der Postbote zu einem Gläschen Schnaps vorbei. Meine Mutter erzählt ihm vom unbändigen Schreien des Säuglings, der unbändigen Gier nach Milch, nur nicht nach ihrer.
Der Postbote nickt, gibt ihr die Postkarte vom Bodensee, trinkt den Schnaps aus und geht weiter zum nächsten Haus. Mit verschränkten Armen steht die Mutter dann am Fenster, sieht ihm nach. Sie hat noch viel im Haushalt zu erledigen.


Gerd  —
Ein Tag nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt gebar meine Großmutter meinen Vater Gerd, sieben Tage nach der Abnabelung überfiel Deutschland Polen. Gerd ist auf Platz 17 der beliebtesten Vornamen in diesem Jahr.

Ein Neunmonatskind ist mein Vater nicht, am Rosenmontag im betrunkenen Zustand gezeugt. Gerds Vater: Offizier —vielleicht— der später dann von seiner Arbeit nicht wieder kam. Vermisst blieb er bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus. Gerds Vater, so könnte es sein: ein Vergewaltiger und Mörder. Ein Liebender hätte er auch sein können, wenn es seine Zeit gewesen wäre. Zeit genug geblieben wäre, um zu lieben.

Eine Mine explodiert. Die Frau vor ihm zerfetzt es. Das sind Gerds Erinnerung an den Krieg. Fünf oder sechs Jahre alt ist er. Explosionen, Lärm, Weinen — weiter gehen! Die Bäume blieben stehen als sie durch den Wald gehen, die Blätter des Baums direkt vor ihm sind voller roter Kleider. Seine Mutter gehtvor ihm, seine drei Brüder gehen vor ihm und alle gehen mit gesenktem Kopf und verkusteten Augen weiter.

Sein Vater war ist Vater seiner Brüder, denkt er. Jahre später ist er auf der Suche nach seinem Vater, liest auf einem Zettel des Jugendamtes drei Namen von Männern, die seine Mutter diktiert hatte. Jeder von ihnen hätte es sein können, hatte die Mutter dem Jugendamt gesagt. Gerd versuchte nicht weiter herauszufinden wer sein Vater war, denn seine Mutter bekam käferweite Augen, wenn er fragte.


Heike  —
Bischof von Galen stellt einen Strafantrag wegen der NS-Morde an Geisteskranken und meine Großmutter gebar, am selben Tag, meine Mutter Heike, drei Tage nach der Abnabelung befiehlt Göring »Die Endlösung der Judenfrage.«. Heike ist auf Platz 17 der beliebtesten Vornamen in diesem Jahr.

Ein Neunmonatskind ist Heike, an Allerheiligen beim Soldaten-Urlaub gezeugt. Heikes Vater: Obergefreiter, der später dann von seiner Arbeit nicht wieder kam. Eingesperrt blieb er bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus. Heikes Vater: ein Mörder und Gefangener. Ein Liebender hätte er auch sein können, wenn es seine Zeit gewesen wäre. Zeit genug geblieben wäre, um zu lieben.

Schnell durch den Wald. Flieger brummen und kreisen. Der Bruder hat sie an der Hand, seine Hand ist weich und nass. Die Mutter hetzt über Gestrüpp und Wurzeln, dem Bruder tropft Rotz und Speichel auf ihre Hand. Überall Menschen, mit flachem Atem und verkrusteten Augen. Später wird sie erfahren, das überall im Wald Minen waren und sich ekeln vor der Spucke ihres Bruders.

Ihr Vater ist der Vater ihres Bruders, denkt Heike. Erst sehr viel später erfuhr sie vom älteren Bruder, der früh starb, über den nie gesprochen wurde, der zurück blieb in Schutt und Asche. Ihr Vater steht drei Jahre nach Kriegsende am Bahnsteig, er riecht nach Mottenkugeln und Angst, seine Hände stecken tief in der Tasche, seine Käferaugen schauen auf Heike — er bleibt stumm.


Olaf  —
»Unspektakulär war die Geburt von Olaf.«, sagt Heike ihrer Nachbarin Erika auf der Straße und schaut bittend in den Kinderwagen »Sechs Wochen zu früh kam er auf die Welt. Aber das hat dann auch nichts mehr gemacht.«.
Ein blaues Mützchen schenkt ihr die Nachbarin Erika, ihrem Jüngsten passt sie nicht mehr.
»Ach wie schön. Das wär‘ jetzt aber nicht nötig gewesen!«, sagt Heike, legt das Mützchen zweimal zusammen, spielt mit den Kordeln. »Jetzt trinkt Olaf schon in einem Zug die Milch aus der Flasche leer.«
Am nächsten Tag bringt meine Mutter der Nachbarin ein Stück Kuchen vorbei «Für das Mützchen – das passt Olaf so gut!»

Warum heiße ich Olaf? Vater Gerd und Mutter Heike hatten die Namensliste der männlichen Vornamen durchgelesen. Der Mutter gefiel das runde O, der Vater sagte «Ja». Der Vater meiner Mutter hieß Joseph und der Vater meines Vaters war namenlos, deswegen war meinem Vater jeder männliche Namen recht.

Mit zwei Jahren beginne ich zu zittern, übergebe mich, schreie.
Heike besänftigt meine Großmutter «Es wird schon nicht so schlimm sein. Der Junge wird bald aufhören zu schreien.» und meine Mutter flößt mir mit zittrigen Fingern noch mehr Griesbrei ein. Ich spucke den Brei wieder aus, krampfe, finde die Tränen meiner Mutter auf meinen Wangen und übergebe mich wieder.
Daneben steht mein Vater, in seiner Hand meine Schwester Britta, die zwei Jahre älter ist als ich. Britta hat blonde, gekräuselte Haare, die Finger meines Vaters verfangen sich in ihren Locken. Britta streckt ihre Hand nach mir aus, ertastet meine Finger — ein Rest Griesbrei landet auf ihrem Gesicht. Britta weint, schreit. Mutter und Vater schreien. Die Holzfenster werden zugemacht.


Fortsetzung folgt


Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023