Ein Glückstag

Fuß auf Fuß folgend verliess ich mein Büro. Mitten im feierabendli­chen Fußgängerverkehr geschah es. Ohne jeglichen Grund geriet ein Herr mittlerer Lohnvergütung aus der Fassung. In der Hand hielt er den wunderschönsten Aktenkoffer, auf seinem Kopf schwankte ein grauer Hut. Seine Gesichtszüge kündigten schnelle Beförderung an.

Nichts hielt ihn auf. Er ließ sich einfach auf den Bürgersteig fallen. Mit den Händen, die er zu Fäusten ballte, begann er gegen die Steinplatten zu pochen. Zunächst in einem heiteren Rhythmus, im Takt einer veralteten Rechenmaschine etwa. Nach wenigen Minuten hämmerte er unfein auf die Steinplatten ein. Selbst an eine Ein­gangstür klopft man in Maßen. Kein Wunder also, das die Platten eigensinnig auf der Erde verschlossen blieben. Seine Knöchel waren in­zwischen rot aufgerieben. Es hatte keinen Sinn. Man öffnete ihm nicht.

Ich aber hatte Erbarmen mit ihm, kniete mich zu ihm nieder, bestaunte den wunderschönsten Aktenkoffer. Er hatte absolut kei­nen Grund sich zu beklagen. Das allerschönste Schwarz, das ich seit mindestens zehn Jahren an einem Aktenkoffer gesehen hatte. Aber der Hut: die Krempe von Regen und Wind ausgedorrt, das Grau son­nenbleich. Eine ältere, dennoch nette Dame klopfte mir wohlwollend auf die rechte Schulter.
»Einen solchen Mann«, sagte sie, »hätte ich damals auch gebrau­chen können!«, fiel auf die Kniee und blieb erschöpft liegen.
Ich hob mit der gebotenen Vorsicht den wunderschönsten Aktenkof­fer leicht in die Höhe. Ein Prachtexemplar! Perfektes Schwarz! Der Verschluß einwandfrei!

Während ich diese göttliche Verabeitung des Koffers auf mich wirken ließ, keuchte und knurrte es unter meinen Füßen.
Der sonderbare Herr, mit seiner netten Unart Steine zu bearbeiten, schrie nun plötz­lich nach dem wunderschönsten Aktenkoffer. Darauf konnte ich natürlich nicht gefasst gewesen sein. Der Koffer entglitt mir aus den Händen, genau auf den Kopf der alten, tolpatschigen Dame, verletzte sie so peinlich, dass ihr Blut auf den Hut des sonderbaren Herrn floß. Das hätte ihr natürlich nicht passieren dürfen.
»Ach, tut mir das leid!«, flüsterte die Dame, »Hätten sie doch bloss einen Helm auf, den würde ich Ihnen schon wieder recht grau polie­ren. Ach das tut mir jetzt aber leid!«
Endlich konnte ich mein Ohr von ihren schwachen Lippen nehmen. Aufgesprungene Lippen, Mundgeruch, Blut. Alles recht unange­nehme Dinge. Selbstredend verzieh ich ihr diese Unpässlichkeit sofort. Der Hut war rot, die Dame bleich. Man muß die Dinge neh­men wie sie sind!

Die weiteren Unarten des Herrn entzückten mich. Aus dem wunder­schönsten Aktenkoffer barg er ein altes, zerbissenes Holzlineal, kratzte damit an den vier Seiten einer Steinplatte so lange herum, bis sie sich lockerte. Sein Filzgesicht strahlte. Unter der Platte lag zusammengepresste Erde. Hastig klappte er den wunderschönsten Ak­tenkoffer auf, kratzte mit dem Lineal Erde zu einem kleinen Berg zu­sammen und schüttete diese in den wunderschönsten Aktenkoffer. Er schloß ihn, öffnete ihn, schüttete die Erde über seinen Kopf. Sein Filzgesicht schien vor Freude zu platzen. Die Wangen blähten sich auf, die Augäpfel kullerten beinahe aus den Augen; er schnappte, mit der Zunge ringend, nach Luft. Ich nahm diesen Augenblick wahr und zog an einem Griff des wunderschönsten Aktenkoffers. Am zweiten Griff baumelte aber der wunderschönste Aktenkoffer noch immer fest an seiner Hand. Er ließ nicht los. Ich zerrte am Griff. Es half alles nichts. Weiter stand ich daneben und wartete ab.

Er setzte sich in den Aktenkoffer, beugte seinen Oberkörper, ver­suchte seinen Kopf in die freigelegte Erde zu stecken. Natürlich lief dies schief.
Der Kopf war viel zu weich, die Erde zu hart. Er lockerte Stein um Stein, löste Stein um Stein, versuchte Erde um Erde seinen Kopf hineinzustecken. Er scheiterte. Bis in den Abend hinein versuchte er es immer wieder. Ich blieb bei der Stange. Dutzende von Menschen glotzten und gierten ja nur auf den Augenblick, das ich den Platz neben dem wunderschönsten Aktenkoffer auch nur eine Sekunde lang verlassen würde oder zwei Se­kunden unachtsam wäre. Kahl, immer kahler von Steinen lag der Bürgersteig. Die Erde gab nicht nach, der sonderbare Herr nicht und ich.

Wirklich und wahrhaftig: es war der wunderschönste Aktenkoffer auf Erden. Ein Schwarz für das ich wohl alles aufgegeben hätte. Die alte Frau hatte sowieso schon seit Stunden verspielt und lag, mit einem Häufchen Erde auf ihrem Gesicht, unter mir. Die anderen, die Hun­dertschaften an Menschen, die ringsum gafften und gierten hatten keine Chance. Der Platzvorteil lag eindeutig bei mir. Endlich, kurz vor dem Morgengrauen kam aus der Grube kein Laut mehr. Immerhin hatte der freundliche Herr wenigstens noch seinen Kopf unter der Erde vergraben können.

So hatte also meine Aufmerksamkeit und eiserne Geduld gesiegt und ich lief stolz, den wunderschönsten Aktenkoffer der Welt, den Erfolg in den Händen tragend, unter den neidisch gurrenden Lauten der umstehenden Menschen, in einen neuen, glücklichen Tag.


Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023