Die Blaue Magd

[nach einem Bild von Kerstin Bober]

Mein erster und letzter Satz als Kind war »Ich möchte«.
Meine Eltern sahen mich dabei mit großen braunen Augen an.
»Was möchtest Du?«, fragten sie mich.

»Wie Mutter Maria siehst Du nicht aus, bist auch kein Engel – also sprich«, sagte mir der Pfarrer.

Meine liebsten Erinnerungen sind die grauen Wolken, die den blauen Himmel verdecken. Ich liebe die dunklen Tannenwälder und die langen Nächte im Winter. Ich wurde bereits mit blauen Haaren geboren, meine Haut wurde erst mit den Jahren immer blauer, nur mein Gesicht ist weiß wie die Wolken und ist doch Mondgestein.

»Deine Eltern sind arm, deine Großeltern auch, Deine Ur-ur-ureltern – alle, Du bist nicht blaublütig, sei bloß nicht so …«, sagte mir meine einzige Freundin.

Ich weiß nicht mehr wann ich Magd wurde, ob es nicht einfach schon immer so war. Sie sagten zu mir »Tu das« und »Mach endlich«.
Die Menschen behandeln mich nicht schlechter als ihre abgetragene Abendgarderobe.

»Die Blausucht hast Du nicht, Dir gehts gut, nun sag schon was«, sagte der Arzt.

Man nennt mich die blaue Magd. Man spottet über mich »Du bist doch im Meer geboren. Der Himmel über Dir ist bestimmt besonders blau gewesen als man Dich gezeugt hat.«

»Ich möchte«, dachte ich eines Tages, »nicht mehr so sein« Nach Feierabend ging ich auf das Feld und legte mich die Nacht über in die tiefste und schlammigste Ackerfurche. Der Tag begann gut, mit dunklen Regenwolken. Ich ging zurück, wusch mich und weinte dann vor dem Spiegel. Am nächsten Tag ging ich ins Wasser und schwamm, tauchte tief, bis mir blau vor den Augen wurde. Am Ufer sah ich in den See und tauchte wieder und immer wieder. Erst am übernächsten Tag gestand ich es mir ein.

»Blaukraut magst Du sicherlich und als Nachtisch Blaubeeren«, lachten sie im Dorf, »Blaumeise, Bläuling, Blauwal, Blaufäule, Du blautöpfige Blaufäule«

Ich mag die Nacht, ich mag Gelb und ich mag Rot und ich mag Wärme. Spätsommer, Reetdächer und trockenes Geäst. Das Dorf brennt lichterloh. Ich finde die grüne Kette, die sowieso niemand mehr vermissen wird, ich finde auch das grüne Hemd, das niemand mehr tragen wird. »Ich möchte«, singe ich.

Bild: Kerstin Bober

Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023